Der Kaiserin neue Kleider
Ein langer Weg in grobkörniger Aufnahme. Eine Frau, die ihn entlangschreitet. Die Kamera zoomt auf ihre Füße. Es sind hübsche Füße in hübschen Designer-High Heels. Die Kamera hält auf die Füße. Dann schwenkt sie über den Körper der Frau, der in ein Designer-Kleid gehüllt ist, das wir nun in allen Details betrachten dürfen. Die Kamera behält nun das Gesicht der Frau im Objektiv. Ihre Haare wehen leicht im Wind. Ihr Blick ist in die Ferne gerichtet und man kann nicht genau festlegen, ob er bedeutungsschwer oder eher ausdruckslos ist.
Diese Szene ist nicht der neue TV-Spot eines bekannten Modehauses – nein, so oder so ähnlich spielen sich die meisten der so genannten Visualettes ab – die kurzen Videos, von denen eines für jeden Song des neuen Tori Amos’ "Albums Abnormally Attracted To Sin" gedreht wurde.
Schon lange bevor der eigentliche Albumtitel feststand, kamen dem Tori-Fan einige Infos über das Schaffen seiner Lieblingspianistin zu Ohr: Die Gute schreibt jetzt ein Musical, ihr neues Album wird damit aber nichts zu tun haben, aber jeder Song des neuen Albums wird einen Kurzfilm untermalen.
Die Kurzfilme sind mit der Zeit also zu den Visualettes geworden. Und mit Verlaub – ich hätte die Kurzfilm-Geschichte doch interessanter gefunden. Nur wenige der Visualettes schaffen es, eine gewisse Atmosphäre aufzubauen (das sind häufig die, mit Szenen von der Tour 2007), sie sind weder Fisch noch Fleisch – kein Musikvideo im klassischen Sinne aber auch kein Kurzfilm. Einige untermalen den dazu passenden Song sehr schön und bieten neue Sichtweisen auf den Text, aber viele wirken einfach nur wie eine Modenschau. Dazu der ewig gleiche Blick, nur in einem Video blitzt ein Lachen auf, das Bild wechselt von grobkörnig zu gestochen scharf. Und immer wieder: Toris neue Kleider. Und Schuhe. Und Taschen. Aber nicht nur Tori ist neu eingekleidet, auch die Damen der American Doll Posse dürfen sich mal wieder sehen lassen – Pip war anscheinend sogar beim Friseur!
Aber genug zu den Visualettes. Klang es im Vorfelde so, als wäre das Album auf diesen Filmchen aufgebaut, wirken sie jetzt eher wie ein nettes Extra zum neuen Album. Und das ist es ja eigentlich, was zählt: Tori Amos hat ein neues Album aufgenommen! 17 Songs an der Zahl umfasst das Werk. Ein Grund zur Freude. Mag man annehmen.
Nun war ich von ihrem letzten Album doch so enttäuscht, dass ich keine hohen Erwartungen hegte. Ich hab auch die diversen Streams, die vor Veröffentlichung den Weg ins Netz fanden nicht gehört. Nur die Single "Welcome to England" tat ich mir einmal an (war nicht begeistert) und die Liveaufnahmen von "Curtain Call" und "Lady in Blue", wobei hier vor allem ersteres zu überzeugen wusste.
Leider muss ich sagen: Ich bin wieder nicht zufrieden. Auch, wenn mich dieses Album doch positiver stimmt also Toris Posse.
Der Opener "Give" war schon mal ein kluger Schachtzug: Düster, ein bisschen elektronisch – erinnert doch an "From The Choirgirl Hotel" Zeiten. Eigentlich ja das, was man sich immer gewünscht hat: Dass Tori wieder zu ihrem alten Sound, der ihr doch so gut stand, zurückkehrt. Jedoch klingt der Song in meinen Ohren etwas angestrengt, vielleicht auch überproduziert? Egal, jedenfalls stimmt er einen doch erstmal hoffnungsvoll. Und leider hat uns Tori da mal wieder an der Nase herumgeführt. Denn was jetzt kommt, klingt wie ein Album, das nicht von einer sondern von vielen vielen Personen aufgenommen wurde. Will meinen: Eine in sich nicht immer stimmige Mischung aus vielen verschiedenen Stilen. Hier gibt es Songs, die nach alten Zeiten klingen, Songs, die eher nach den letzten Alben klingen und Songs, die für Tori neu erscheinen. Eines muss man ihr ja lassen: Irgendwas neues, bis dato untypisches für sie, kommt fast immer mit auf Toris Alben. Auf diesen Alben wären das zum Beispiel die Bubblegum-Pop Hymne "500 Miles". Oder auch "Fire To Your Plain", mit seinem dahinplätschernden Swing. Beide Songs werden von vielen Leuten 'gehasst' – ich muss sagen, ich schätze die gelöste Stimmung, die von beiden Songs ausgeht. Unangestrengt, beschwingt – hätte ich den Song von wem anders im Radio gehört, wäre es für mich einer dieser Radiohits geworden, über die man sich immer wieder freut und laut mitsingt (die man aber nicht unbedingt im Tonträgerformat besitzen muss).
Was mir an diesem Album besonders fehlt, sind die Hits, die Songs, die man wochenlang im Dauerrepeat hören muss. Selbst die von mir nicht unbedingt geliebten Alben "The Beekeeper" und "American Doll Posse" hatten davon je mindestens zwei. Hier bleibt das für mich leider aus. Viele gute Songs, viele wirklich tolle Ansätze werden leider im Keim erstickt. So fängt beispielsweise "Strong Black Vine" unheimlich viel versprechend an, geht dann aber in der dick aufgetragenen Instrumentierung völlig unter. Auch das tolle "Curtain Call" hätte ich mir weniger stark instrumentiert gewünscht, es bleibt aber trotzdem einer der besten Songs des Album – düster, melancholisch, Piano, zu Herzen gehend. Ein weiterer Song, der gut in die "From The Choirgirl Hotel"-Zeit gepasst hätte: "Starling". "Starling" wäre perfekt, wäre da nicht diese Bridge…
Ein weiteres Element, das gelegentlich an dem Album stört: Die Synths. Besonders bei Lady in Blue stören sie mich aber auch ohne sie wäre der Song vermutlich von dem Gitarrensolo gen Schluss abgewertet worden, aber trotzdem, gerade in Abendstunden ein schöner, entspannter Ausklang für das Album, auch wenn mir das schöne, sparsamer instrumentierte "Ophelia" als Schluss noch besser gefallen hätte).
Auch textlich bringt es Tori auf diesem Album bei vielen Songs mehr auf den Punkt als damals. Selbst vor Paarreimen, mit denen man früher niemals gerechnet hätte, wird jetzt kein Halt mehr gemacht. Ihre Stimme schwankt zwischen leicht rau & kratzig, leicht lasziv ("Police me") und süßlich ("Flavor"). Auch ihre neuen Musical-Erfahrungen lassen sich bei "That Guy" deutlich heraushören (für Musicalhasser vermutlich unerträglich, mir gefällt es ganz gut, auch wenn es ungewohnt ist).
Eben das bestärkt den Eindruck, die Frau, die dieses Album gemacht hat, war nicht immer die gleiche Frau.
Insgesamt kann man allerdings sagen, dass Tori mit diesem Album für meinen Geschmack mehr richtig gemacht hat als bei der Doll Posse: Mit "Curtain Call", dem textlich ziemlich interessanten Piano-only-Song "Mary Jane" und "Fast Horse" beruft sie sich auf alte Stärken die auch mit neuen Elementen verknüpft werden. Auch die leicht cheesy Songs "500 Miles" und "Fire To Your Plain" bringen mich zumindest in gute Stimmung.
Leider liegen dazwischen auch Ausfälle wie die Kitschballade "Maybe California" (deren Text mich als Nicht-Mutter leider gar nicht anspricht und durch ihre extrem betonte Aussprache der Schlagwörter dieses Songs doch ganz gut zu nerven weiß) und das uninspirierte "Not Dying Today".
Fazit? Tori war shoppen, ja. Doch neben ihren neuen Designer-Fummeln trägt sie auch gerne den einen oder anderen Schatz aus ihrem Kleiderschrank. Aber manchmal dauert es ein bisschen, bis man sich endgültig für einen Stil entschieden hat.
Und sperrt mal bitte ein paar Gitarren weg, wenn Tori ins Studio kommt!
Diese Szene ist nicht der neue TV-Spot eines bekannten Modehauses – nein, so oder so ähnlich spielen sich die meisten der so genannten Visualettes ab – die kurzen Videos, von denen eines für jeden Song des neuen Tori Amos’ "Albums Abnormally Attracted To Sin" gedreht wurde.
Schon lange bevor der eigentliche Albumtitel feststand, kamen dem Tori-Fan einige Infos über das Schaffen seiner Lieblingspianistin zu Ohr: Die Gute schreibt jetzt ein Musical, ihr neues Album wird damit aber nichts zu tun haben, aber jeder Song des neuen Albums wird einen Kurzfilm untermalen.
Die Kurzfilme sind mit der Zeit also zu den Visualettes geworden. Und mit Verlaub – ich hätte die Kurzfilm-Geschichte doch interessanter gefunden. Nur wenige der Visualettes schaffen es, eine gewisse Atmosphäre aufzubauen (das sind häufig die, mit Szenen von der Tour 2007), sie sind weder Fisch noch Fleisch – kein Musikvideo im klassischen Sinne aber auch kein Kurzfilm. Einige untermalen den dazu passenden Song sehr schön und bieten neue Sichtweisen auf den Text, aber viele wirken einfach nur wie eine Modenschau. Dazu der ewig gleiche Blick, nur in einem Video blitzt ein Lachen auf, das Bild wechselt von grobkörnig zu gestochen scharf. Und immer wieder: Toris neue Kleider. Und Schuhe. Und Taschen. Aber nicht nur Tori ist neu eingekleidet, auch die Damen der American Doll Posse dürfen sich mal wieder sehen lassen – Pip war anscheinend sogar beim Friseur!
Aber genug zu den Visualettes. Klang es im Vorfelde so, als wäre das Album auf diesen Filmchen aufgebaut, wirken sie jetzt eher wie ein nettes Extra zum neuen Album. Und das ist es ja eigentlich, was zählt: Tori Amos hat ein neues Album aufgenommen! 17 Songs an der Zahl umfasst das Werk. Ein Grund zur Freude. Mag man annehmen.
Nun war ich von ihrem letzten Album doch so enttäuscht, dass ich keine hohen Erwartungen hegte. Ich hab auch die diversen Streams, die vor Veröffentlichung den Weg ins Netz fanden nicht gehört. Nur die Single "Welcome to England" tat ich mir einmal an (war nicht begeistert) und die Liveaufnahmen von "Curtain Call" und "Lady in Blue", wobei hier vor allem ersteres zu überzeugen wusste.
Leider muss ich sagen: Ich bin wieder nicht zufrieden. Auch, wenn mich dieses Album doch positiver stimmt also Toris Posse.
Der Opener "Give" war schon mal ein kluger Schachtzug: Düster, ein bisschen elektronisch – erinnert doch an "From The Choirgirl Hotel" Zeiten. Eigentlich ja das, was man sich immer gewünscht hat: Dass Tori wieder zu ihrem alten Sound, der ihr doch so gut stand, zurückkehrt. Jedoch klingt der Song in meinen Ohren etwas angestrengt, vielleicht auch überproduziert? Egal, jedenfalls stimmt er einen doch erstmal hoffnungsvoll. Und leider hat uns Tori da mal wieder an der Nase herumgeführt. Denn was jetzt kommt, klingt wie ein Album, das nicht von einer sondern von vielen vielen Personen aufgenommen wurde. Will meinen: Eine in sich nicht immer stimmige Mischung aus vielen verschiedenen Stilen. Hier gibt es Songs, die nach alten Zeiten klingen, Songs, die eher nach den letzten Alben klingen und Songs, die für Tori neu erscheinen. Eines muss man ihr ja lassen: Irgendwas neues, bis dato untypisches für sie, kommt fast immer mit auf Toris Alben. Auf diesen Alben wären das zum Beispiel die Bubblegum-Pop Hymne "500 Miles". Oder auch "Fire To Your Plain", mit seinem dahinplätschernden Swing. Beide Songs werden von vielen Leuten 'gehasst' – ich muss sagen, ich schätze die gelöste Stimmung, die von beiden Songs ausgeht. Unangestrengt, beschwingt – hätte ich den Song von wem anders im Radio gehört, wäre es für mich einer dieser Radiohits geworden, über die man sich immer wieder freut und laut mitsingt (die man aber nicht unbedingt im Tonträgerformat besitzen muss).
Was mir an diesem Album besonders fehlt, sind die Hits, die Songs, die man wochenlang im Dauerrepeat hören muss. Selbst die von mir nicht unbedingt geliebten Alben "The Beekeeper" und "American Doll Posse" hatten davon je mindestens zwei. Hier bleibt das für mich leider aus. Viele gute Songs, viele wirklich tolle Ansätze werden leider im Keim erstickt. So fängt beispielsweise "Strong Black Vine" unheimlich viel versprechend an, geht dann aber in der dick aufgetragenen Instrumentierung völlig unter. Auch das tolle "Curtain Call" hätte ich mir weniger stark instrumentiert gewünscht, es bleibt aber trotzdem einer der besten Songs des Album – düster, melancholisch, Piano, zu Herzen gehend. Ein weiterer Song, der gut in die "From The Choirgirl Hotel"-Zeit gepasst hätte: "Starling". "Starling" wäre perfekt, wäre da nicht diese Bridge…
Ein weiteres Element, das gelegentlich an dem Album stört: Die Synths. Besonders bei Lady in Blue stören sie mich aber auch ohne sie wäre der Song vermutlich von dem Gitarrensolo gen Schluss abgewertet worden, aber trotzdem, gerade in Abendstunden ein schöner, entspannter Ausklang für das Album, auch wenn mir das schöne, sparsamer instrumentierte "Ophelia" als Schluss noch besser gefallen hätte).
Auch textlich bringt es Tori auf diesem Album bei vielen Songs mehr auf den Punkt als damals. Selbst vor Paarreimen, mit denen man früher niemals gerechnet hätte, wird jetzt kein Halt mehr gemacht. Ihre Stimme schwankt zwischen leicht rau & kratzig, leicht lasziv ("Police me") und süßlich ("Flavor"). Auch ihre neuen Musical-Erfahrungen lassen sich bei "That Guy" deutlich heraushören (für Musicalhasser vermutlich unerträglich, mir gefällt es ganz gut, auch wenn es ungewohnt ist).
Eben das bestärkt den Eindruck, die Frau, die dieses Album gemacht hat, war nicht immer die gleiche Frau.
Insgesamt kann man allerdings sagen, dass Tori mit diesem Album für meinen Geschmack mehr richtig gemacht hat als bei der Doll Posse: Mit "Curtain Call", dem textlich ziemlich interessanten Piano-only-Song "Mary Jane" und "Fast Horse" beruft sie sich auf alte Stärken die auch mit neuen Elementen verknüpft werden. Auch die leicht cheesy Songs "500 Miles" und "Fire To Your Plain" bringen mich zumindest in gute Stimmung.
Leider liegen dazwischen auch Ausfälle wie die Kitschballade "Maybe California" (deren Text mich als Nicht-Mutter leider gar nicht anspricht und durch ihre extrem betonte Aussprache der Schlagwörter dieses Songs doch ganz gut zu nerven weiß) und das uninspirierte "Not Dying Today".
Fazit? Tori war shoppen, ja. Doch neben ihren neuen Designer-Fummeln trägt sie auch gerne den einen oder anderen Schatz aus ihrem Kleiderschrank. Aber manchmal dauert es ein bisschen, bis man sich endgültig für einen Stil entschieden hat.
Und sperrt mal bitte ein paar Gitarren weg, wenn Tori ins Studio kommt!
FallOutGirl - 5. Jun, 21:51